Die 41-jährige erfolgreiche Psychiaterin Michelle Meinberg lebt ihr Leben auf der Überholspur: Ihr Tagesablauf ist beruflich und privat – sie ist verheiratet und hat 2 Kinder – voll durchorgani- siert; für Emotionales bleibt wenig Raum und auch für ihre alte Mutter hat sie fast nie Zeit. Obwohl sie nicht weit voneinander entfernt wohnen, hat sie sie schon lange nicht mehr besucht; sonntags telefonieren beide zwar miteinander, aber Michelle hört „dem Geplapper“ gar nicht richtig zu. Die alte Dame sieht das ständige In-Eile-Sein der Tochter mit Besorgnis und bittet ihre esoterisch begabte Freundin Lilly, die Tochter mit einem Zauber zu belegen.
Für andere, nicht jedoch für sich selbst, auch alt aussehend, soll diese nun 24 Stunden lang im Körper einer 80-Jährigen leben. Auf diese Weise wird sie u.a. gezwungen sein, alles langsamer anzugehen und dadurch zur Ruhe zu kommen. Das Umfeld hat Lilly entsprechend angepasst: Die Kinder sind er- wachsen und haben das Elternhaus verlassen, der Mann ist seit 10 Jahren tot und in der Gegend hat sich viel verändert.
Nach nur wenigen Stunden in ihrem alten Körper wird Michelle in ein Heim
für Demenzkranke eingeliefert. Dort denkt sie nicht nur häufig an ihre Mutter und deren viele gut gemeinte Ratschläge, sondern lernt auch die 82-jährige Magdalene kennen, deren Mann kürzlich gestorben ist – wie sie behauptet, heimtückisch vom Neffen Norbert in den Tod getrieben. Die beiden Frauen flüchten aus dem Heim, um den Mörder zu überführen. Nachdem sie zu- nächst in einer Pension untergetaucht sind, fahren sie zu Michelle nach Hause. Dort findet diese in ihrem mit Erinnerungsstücken gefüllten Kinder- köfferchen einen aktuellen an sie adressierten Brief ihrer Mutter, in dem
sie vieles erklärt, von dem sie wusste, dass es ihre Tochter und ihr Ver- hältnis zueinander zeitlebens belastet hat. Michelle ist erleichtert und kann mit der Vergangenheit endlich ihren Frieden machen.
Mehr noch: Sie überdenkt ihr bisheriges Leben und beschließt, ihm in Zukunft mehr Raum für Emotionen und Familie zu geben.
Unmittelbar darauf verliert der Zauber seine Wirkung, sie ist körperlich wieder 41 Jahre alt und befindet sich unter ihren normalen Lebensum- ständen wieder in ihrer gewohnten Umgebung.
Resümee: Nachdem „Frühstückspension“ (2008), „Janssenhaus“ (2011) und „Die Pension am Deich“ (2012) sich schon sehr voneinander unter- schieden, ist dieses Buch thematisch und stilistisch wieder komplett anders.
Und muss ich gestehen, dass ich (noch) keinen Zugang dazu gefunden habe. Ich frage mich, welches das Anliegen der Autorin sein mag:
- Möchte sie für „das Lob der Langsamkeit“ plädieren, um z.B. der
Familie, incl. den alten Eltern, mehr Zeit und Zuwendung zu geben,
statt sein Leben stets nur straff durchzuorganisieren?
Zur Reflexion über dieses in unserer schnelllebigen Zeit leider allzu häufig zu beobachtende Phänomen hätte es nicht eines abstrusen Zaubers bedurft. Michelle hätte auch auf sehr realistische Weise ausgebremst werden kön- nen. Es gibt reichlich reale Fälle, in denen jemand durch ein einschneiden- des Ereignis vorübergehend „aus dem Verkehr gezogen“ wurde und dadurch gezwungen war, seine Situation und sein zukünftiges Leben in Ruhe zu über- denken. Zauberei als Zwangsmaßnahme in so einem Fall, das kann ich schwer akzeptieren.
- Sollte in diesem Kontext der Fokus auf das schwierige Mutter-
Tochter-Verhältnis gerichtet werden, in dem es aus vielerlei Gründen zu keiner Aussprache kommt?
Ich denke, die alleinige Schuld für unausgesprochene und daher ungeklärte Vorwürfe, Missverständnisse usw. kann man nicht der Tochter geben, die nie Zeit hat. Wenn der Mutter die Darstellung ihrer Sicht wirklich eine Herzens- angelegenheit gewesen wäre, hätte sie auch einen gangbaren Weg ge- funden.
- Soll Michelle erfahren, wie es ist alt zu sein bzw. sich alt zu fühlen?
Dazu reichen zum einen 24 Stunden nicht aus. Zum anderen hat wohl jeder schon einmal einen schlechten Tag gehabt, an dem er sich furchtbar alt gefühlt, keinen Schritt vor den anderen bekommen hat und zur Ruhe ver- dammt war. Und gedankliche Aussetzer sind wohl ebenfalls niemandem fremd, ebenso wenig die Tatsache, von einigen Personen nicht für voll genommen und belächelt zu werden. Das betrifft Menschen jeden Alters - junge Leute mindestens genauso wie alte. Auch hierzu hätte es keines Zaubers bedurft.
- Möchte die Autorin die Situation Demenzkranker aufzeigen?
Für die Behandlung dieses komplexen, existenziellen Themas reichen die paar „Schnappschüsse“, die Michelle im Pflegeheim bekommt, beileibe nicht aus. Im Gegenteil, sie sind eher geeignet, das Problem zu verharmlosen.
Die Rezensentin Gisela Gutensohn lobt bei amazon.de, dass dieses Buch „mit einer großen Leichtigkeit geschrieben“ sei, womit sie m.E. absolut Recht hat – aber genau hierin sehe ich das Problem. Denn die oben genannten 4 elementaren, unendlich komplexen Probleme unserer Zeit lediglich anzu- reißen – was anders auch gar nicht möglich ist, wenn man sie alle in einem einzigen Roman unterbringen will - bedeutet für mich, sie und damit die Betroffenen nicht ernst zu nehmen, ihre Situation zu bagatellisieren.
Die Autorin schreibt in der Danksagung, dass sie in diesem Roman bewusst „der Phantasie mehr Raum“ gegeben habe. Wahrscheinlich liegt genau hier mein Akzeptanz-Problem:
Ist bei der fiktiven Behandlung der geschilderten sehr realen Probleme Fantasie und Zauberei erforderlich, um sie bewusst zu machen und Einsichten herbeizuführen? Ich empfinde das als Ohrfeige für Be- troffene, die leider keine zaubernde Freundin haben.
Am Ende jeden Kapitels steht das Ergebnis eines Interviews, an dem männliche und weibliche Erwachsene jeden Alters teilgenommen haben. Offensichtlich wurden ihnen jeweils die gleichen Fragen gestellt, nämlich
1. Welche Assoziation sie zum Wort „alt“ haben,
2. was der Gefragte an alten Leuten nicht mag,
3. was ihm an ihnen imponiert,
4. was der Interviewpartner mitnehmen würde, wenn er
plötzlich sein Haus verlassen müsste,
5. wie derjenige sich selbst mit 86 Jahren sieht.
In Bezug auf Menschen stellt sich mir bei 1. die Frage, was konkret mit „alt“ gemeint ist. Für junge Leute ist vielfach jemand um die 30 bereits alt, für einen Mittfünfziger verlagert es sich sich vielleicht gegen 70/80 Jahre; je nach Konstitution fühlt er sich aber bereits jetzt alt. Und fühlt sich ein 70-Jähriger bereits alt? Aber möglicherweise kann man genau dies als eine Assoziationsmöglichkeit sehen.
Die Fragen 2 und 3 sind mir viel zu wenig differenziert: Es gibt doch nicht DIE alten Leute. Genau wie junge Personen sind auch alte Menschen Individuen mit ihren ganz persönlichen Stärken und Schwächen. Da frage- technisch die Antwort zu provozieren „an alten Leuten gefällt mir (nicht) ...“ bedeutet, alle über einen Kamm zu scheren.
Was jemand mitnehmen würde, wenn er plötzlich sein Heim verlassen müsste, das kommt darauf an, wie man „plötzlich“ definiert, wie alt derjenige dann ist und vor allem, wie lange die Abwesenheit dauert und wohin es geht: ins Heim (was für eine Kategorie?), zu den Kindern, in eine Alten-WG, oder vielleicht sogar ins Ausland oder zu einen Spontan-Urlaub?
Die letzte Frage ist mir, der bis 86 noch 30 Jahre bevorstehen, viel zu abstrakt – in 3 Jahrzehnten kann sich so viel auf allen Gebieten verändern, da kann ich vom heutigen Standpunkt überhaupt nicht beantworten, wie ich mich dann sehe. Was ich sagen könnte, ist, wie ich gerne älter werden würde – Schritt für Schritt in realistisch überschaubaren Abschnitten, immer veränderte oder sich verändernde Lebensumstände einbeziehend.
Die Autorin selbst lässt Lilly sagen:
„... die Zukunft verändert sich ständig. Sie lässt sich nicht voraussagen. Sie formt sich jeden Tag aufs Neue. Wir sollten ihr nicht so viel Be-
deutung beimessen.“ (e-Reader Position 3569 - 3586)
Wie gesagt, mir fehlt bei dieser zauber-haften, „mit Leichtigkeit“ geschrie- benen 24-Stunden dauernden Handlung, die so viele gravierende Probleme beinhaltet, der Zugang.
Aber vielleicht mag die Autorin, die ich sehr schätze, ja einen erklärenden Kommentar schreiben, das würde mich – und sicher auch die von dem Buch begeisterten Leser – sehr freuen.
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Sigrid Hunold-Reime (Sonntag, 31 März 2013 10:13)
Liebe Frau Traks,
Das sind viele und sorgfältig übrdachte Fragen.
Der Versuch Antworten darauf zu geben, ist wohl am sinnvollsten, in dem ich ein wenig den Werdegang des Romans beschreibe.
Als Autorin würde ich mich als sogenannter Mischtyp bezeichnen. Was heißt, da ist eine Idee, ein lockeres Gerüst, vielleicht auch ein Ziel, aber der Weg dahin ist nicht eindeutig beschrieben. Es werden beim Schreiben viele Gabelungen auftreten, immer wieder neue Entscheidungen wie es weitergehen soll.
Meine Ausgangsidee für "Hab keine Angst, mein Mädchen" war das "Kaffee im Gehen Lebensgefühl". Dieser Anspruch an sich selbt Multitask zu sein,immer zu funktionieren und das zack-zack, hastig zu leben, um möglichst viele Ziele zu erreichen. Ohne zu wissen, wie man von A nach B gekommen ist. Letztendlich nicht zu wissen, wie man alt geworden ist. Die Zeit ist einfach vorbeigesaust.
Alt geworden, dachte ich. Ohne Stufe für Stufe zu gehen, wie es Hermann Hesse wunderbar in seinem Gedicht beschreibt. Wie konnte ich meiner Protagonistin Michelle dieses Gefühl vermitteln?
Ein Gespräch mit meinem Jüngsten (22;), ergab die Lösung. Er ermutigte mich doch ruhig mal als Autorin einen Zauberstab in die Hand zu nehmen.
Sicher gibt es viele andere Möglichkeiten, Michelle von der Überholspur zu holen. Da haben sie recht, aber diese zauberhafte reizte mich als Autorin. In dem Augenblick kam erst Michelles Mutter ins Spiel und die Beziehung der beiden Frauen.
Nachdem der Zauber aktiv wurde, besah ich mir Michelle und dachte, was ist, wenn alle ihre Veränderung wahrnehmen, außer sie selbst? Was ist, wenn diese tuffe, aktraktive Frau sich immer noch als 41 jährige sieht und alle Welt die 86 jährige? Genauso ließ ich sie in die Polizeiwache stolpern und konnte die zeitverrückte Welt Demenzerkrankter beschreiben.
Nicht nur die Szenen im Heim. Nein, Michelles komplettes Leben war auf den Kopf gestellt. Ihr Heim und die ihr liebsten Menschen hatten sich verändert, waren sogar gestorben. Michelle fehlte plötzlich ein Zeitblock von vierzig Jahren. Eine eigene Wahrheit entstand, so wie sie Demenzerkrankte erleben. Und die anderen, sogenannten "normalen" sie befremdet betrachten.
Ich muss gestehen, dass ich diese Krankheit beruflich und privat sehr gut kennengelernt habe.
Die Interviews. Ich habe weit über sechzig geführt und diese Gespräche waren sehr bereichernd. Das Gleiche hatte ich mir für die Leser erhofft. Denn mein Hintergrund für die Fragen war genau das Argument, dass Sie Frau Traks vorgebracht haben: Es gibt kein "Normaltsein". Wie wunderbar, nicht wahr:)
Wie Sie sehen, sind Ihre Fragen nicht eindeutig zu beantworten. Ich habe weder einen Roman über eine zauberhafte Verwandlung, noch einen über Demenz, noch eine Mutter-Tochter-Beziehung oder eine Abhandlung über das Altwerden und Altsein geschrieben. Ich überlasse es dem Leser, welcher Gedanke für ihn hängenbleibt.
herzliche Ostergrüße aus Hannover (schrecklich grau und kalt) nach Spanien
Sigrid Hunold-Reime