Die Zwillingsgeschwister Raffael und Svenja sind unzertrennlich und wachsen wohlbehütet in Nordfriesland hinterm Deich auf. Als sie je- doch 7 Jahre alt sind, stirbt Svenja beim gemeinsamen Spiel; Raffael konnte ihr nicht helfen. Er verkraftet ihren Tod nicht, möchte am liebsten auch nicht mehr leben, wird psychisch schwer krank und spricht als eine Folge der Traumatisierung viele Jahre kein Wort mehr.
Er lässt niemanden an sich ran, selbst Mutter und Vater nicht, deren Ehe immer mehr unter dem unerträglichen Zustand leidet. Als Raffael 11 Jahre
alt ist, eskaliert die häusliche Situation eines Abends dramatisch; er muss danach 2 Jahre lang in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden. Anschließend geben die überforderten Eltern ihn in ein Internat, wo ihm Schreckliches widerfährt. Bald kann er das Leben dort nur noch mit Hilfe
von Alkohol halbwegs ertragen.
Er verlässt die Schule, zieht nach Berlin, arbeitet als Hilfsarbeiter am Theater und wohnt zuletzt, mittlerweile 27-jährig, zur Untermiete bei Lilo – einer alten, verwitweten Dame, die sich ein wenig um ihn kümmert. Aber Raffaels Alko- holkonsum und seine Stimmungsschwankungen sind ihr nicht geheuer, so- dass sie einerseits immer mehr unter seiner Nähe leidet, ihm aber anderer- seits auch nicht kündigen mag.
Dann wacht er eines Morgens auf und erschrickt: Das Bett und seine Klei- dung sind blutbesudelt, er selbst jedoch unverletzt. Allerdings findet er sein Messer, das er immer bei sich trug, nicht mehr. Was ist passiert? Raffael hat einen totalen Filmriss und kann sich an absolut nichts mehr erinnern.
Diese Szene wiederholt sich nach einiger Zeit. Sein Leben gerät zunehmend aus den Fugen; er wird immer unberechenbarer und beim geringsten Anlass cholerisch, kann dann aber auch wieder ganz „handzahm“ sein. Auch die fürsorgliche Lilo bleibt von seinen „Anfällen“ nicht verschont.
Als ihm der Boden in Berlin zu heiß wird, flieht Raffael in die Toscana. Dort haben sich seine Eltern ein neues Leben aufgebaut: Sie betreiben sehr er- folgreich ein kleines Hotel und haben noch eine Tochter bekommen. Die kleine Stella ist mittlerweile so alt wie Raffaels Zwillingsschwester als sie
starb und sieht ihr sehr ähnlich. Doch ihre Welt ist keineswegs so heil, wie sie scheint.
Von ihrem Sohn haben die Eltern seit mindestens 10 Jahren kein Lebens-
zeichen mehr erhalten, doch nun sitzt er plötzlich auf ihrer Terrasse - allerdings keineswegs in friedlicher Absicht …
Resümee: Wie bei Sabine Thiesler üblich, spielt die Handlung in Berlin
und in der Toscana. Sehr schade ist jedoch, dass von Berlin mit keiner
Silbe mehr die Rede ist, nachdem Raffael die Stadt verlassen hat. Die dort laufenden Ermittlungen und die Tätersuche werden nicht mehr erwähnt. Dass dieser Handlungsstrang ganz rigoros nach der Hälfte der Seitenzahl gekappt wurde, ist insofern ärgerlich und unfair, als der Leser zumindest
mit der Witwe Lilo mitgefühlt und -gelitten hat. Auch zum Schluss werden
die Ereignisse in der Toscana und in Berlin nicht mehr zusammengeführt, sondern bleiben nebeneinander stehen.
Nun spielen die Ermittlungen der Polizei in diesem Buch ohnehin nur eine untergeordnete Rolle, dennoch ist es sehr unbefriedigend, wenn nach einem sehr rasanten Finale etliche Fragen ungeklärt bleiben. Um einen
im klassischen Sinne offenen Schluss, der zum Nachdenken anregen soll, handelt es sich dabei aber auf keinen Fall; eher wirkt es wie ein Abbruch
der Handlung.
Auch sonst reagierte ich manchmal verständnislos: Z.B. verstößt Raffael mehrfach gegen Gesetze – warum zeigt ihn niemand an? Eine Ermordete wird von der Ambulanz abgeholt – aber die Polizei erscheint nicht; es bleibt wem auch immer überlassen, diese zu verständigen oder – wie in diesem
Fall – eben auch nicht.
Die Geschichten um den bereits aus anderen Thiesler-Büchern bekannten Kommissar Donato Neri und seine Familie mögen einige ja vielleicht ganz erfrischend finden; auf mich wirkten sie vielfach deplatziert, skurril und ein wenig arg konstruiert.
So unberechenbar wie der Protagonist Raffael ist auch der Handlungs- verlauf: Manchmal sieht der Leser ziemlich genau voraus, was als nächstes passiert, und das tritt dann auch ein. Dann wieder geschieht etwas, womit man nicht gerechnet hat. Zwischen diesen beiden Varianten ist alles möglich, und das macht das Buch trotz aller Kritik sehr spannend, da der Leser nie weiß, ob seine Vermutung stimmt. Daher mit Ach und Krach noch ein (kleiner) Stern - vor allem auch, weil sich der in der Rezension von" Nacht- prinzessin" beschriebene Abwärtstrend der Autorin glücklicherweise nicht noch weiter fortgesetzt hat.
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