Was unsere Demokratie von außen und innen bedroht
Alt-Bundespräsident Joachim Gauck (*1940 in Rostock) wuchs in der ehemaligen DDR auf. Das Leben in einer Demokratie war als Jugendlicher daher für ihn „das ferne, leuchtende Sehnsuchtsziel“ (Seite 7).
Als Erwachsener erlebte und gestaltete er 1989 aktiv die friedliche Revolution, in deren Folge die Berliner Mauer fiel – das totalitäre DDR-Regime der SED war Vergangenheit.
Die Staatsform der Demokratie bedeutete für ihn und die meisten Bürger Leben in der Gewissheit einer stabilen Ordnung. Doch für Gauck hat das Gefühl zuverlässiger Sicherheit mittlerweile abgenommen: Durch Erschütte-rungen von außen und innen ist sie verletzbar geworden und droht Risse zu bekommen.
Von außen erfolgt eine Gefährdung primär durch die imperialistische Politik Russlands, von innen vor allem durch autoritär-populistische Bewegungen, die sich immer mehr Gehör verschaffen können und entsprechend Zulauf bekommen.
Gauck untersucht die Ursachen dieser Erschütterungen und hinterfragt kritisch, wo vergangene Regierungen evtl. falsche Entscheidungen mit
fatalen Folgen getroffen haben.
Im ersten Teil führt er aus, dass die so genannte Zeitenwende bereits im
Jahr 2014 begonnen hat, als Russland die Krim besetzte und annektierte. Die deutsche Entspannungspolitik unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ mit dem Ziel der Liberalisierung der Sowjetunion durch Stabilisierung zeigte anfangs durchaus positive politische Ergebnisse. Später jedoch wurden mit dieser Taktik im Rahmen der Ostpolitik die Machtverhältnisse manifestiert.
Im Folgenden analysiert Gauck „Was wir nicht gesehen haben“ und „Die Gründe für unsere Realitätsblindheit“. Abschließend spricht er sich „Für eine wehrhafte Demokratie“ aus.
Teil II beschreibt unsere Demokratie als „ein System der ungesicherten Gewissheiten“ und geht den Ursachen dafür auf den Grund. Dazu gehört auch die Frage „Wie viel Einwanderung verträgt eine Demokratie?“
Dies beinhaltet ein Nachdenken darüber, wie „Rassismus“ definiert ist, und
ob Multikulturalismus ein Problem darstellt.
Thematisch eng damit verbunden ist das abschließendes Kapitel über das weite Feld der „Critical Race Theory“
Resümee: Dieses Buch rückt gegenwärtig sehr zentrale Themen der – nicht nur – deutschen Politik in den Mittelpunkt und analysiert sie auch vor ihrem geschichtlichen Hintergrund.
Joachim Gauck, der in der Parteidiktatur der DDR geboren und aufgewachsen ist, bereichert vor allem die Ausführungen im ersten Teil durch persönliche Eindrücke und Erfahrungen.
Später ist auch die Politik während seiner Amtszeit als Bundespräsident
(2012 – 2017) Gegenstand der kritischen Betrachtungen.
Bei allen Ausführungen tritt er keineswegs als Besserwisser auf, sondern ist stets um sachliche Neutralität bemüht.
Das Buch ist – soweit ich es beurteilen kann – eine fundierte, ehrliche, kri-tische Bestandsaufnahme. Er und die Co-Autorin Helga Hirsch haben es verstanden, auch komplexe Sachverhalte verständlich und interessant zu schildern. Daher ist das Buch thematisch zwar „schwere Kost“, dennoch
aber gut zu lesen.
Kam Joachim Gauck als Bundespräsident für mich oft sehr pastoral herüber, so schätze ich ihn mittlerweile als jemanden, der Sachverhalte mit messer-scharfem Verstand analysiert und keine Scheu hat, die Dinge beim Namen
zu nennen – auch wenn er dabei eigene Fehler eingestehen muss.
Fazit: Ich kann dieses Buch jedem auch nur halbwegs v.a. an der aktuellen
Politik Interessierten wärmstens empfehlen.
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