Mein Mann, der Alzheimer, die Konventionen und ich
Marc, der Ehemann von Katrin Seyfert, der Vater ihrer 8, 10
und 12 Jahre alten Kinder und selbst Arzt, ist Anfang 50, als er zwei Jahre nach den ersten Symptomen die Diagnose „Alzheimer“
bekommt. Es ist eine Erkrankung, die man nicht kontrollieren kann.
Bis zu dem Zeitpunkt ist er immer der Starke gewesen und „Bei 'Wer wird Millionär' wäre er weit gekommen.“ (E-Reader Pos. 114, 3%)
In den folgenden 5 Jahren, in denen ihr Ehemann immer mehr seine Auto-nomie und Identität, sie selbst mehr und mehr die Liebe ihres Lebens an die Krankheit verliert, muss Katrin Seyfert immer häufiger alles das gemeinsame Leben Betreffende planen und organisieren, die Lücken ausfüllen. Das betrifft z.B. den Alltag der gesamten Familie, schulische Angelegenheiten und Hobbys der Kinder, die Pflege des Mannes, die Finanzen, einen Pflegedienst, nicht zuletzt die eigene Berufstätigkeit … und zuletzt die Beerdigung in Marcs Sinne.
Sie hat bald festgestellt, dass es 2 Ebenen in Bezug auf die Krankheit gibt.
Die eine ist die medizinische, beinhaltet Arztbesuche, Therapie, Pflege (-unterstützung).
Die zweite umfasst das gesamte Familienleben und den Alltag mit allen Facetten – etliche Bereiche, die sich durch die Krankheit ändern, und die Angehörigen in vielerlei Hinsicht extrem fordern.
Katrin Seyfert, von Beruf Journalistin, geht auf verschiedene Aspekte ein, so z.B.
. die Anfangsphase, als ihr Mann die ersten Anzeichen verdrängt,
. das Fortschreiten der Krankheit,
. die Konsultationen bei verschiedenen Ärzten und den Umgang miteinander
(Stichworte: Humanität, Empathie, Pragmatismus),
. die wohltuende Einbeziehung von Nachbarn, Freunden und Bekannten,
aber auch deren hilflos-wohlmeinende Phrasen,
. den erforderlichen Einfallsreichtum beim Managen des Alltags und den
Symptomen der fortschreitenden Krankheit,
. finanzielle und bürokratische Probleme,
. Pflegedienst und Heimunterbringung,
. prämortale Trauer,
. Würde, Konventionen, Tabus, Klischees,
. Burnout,
. die Rolle als Witwe, den Umgang mit Trauer,
und vieles andere mehr
Resümee: Katrin Seyfert schildert die verschiedenen Aspekte des Zusam-menlebens mit dem Alzheimer-Erkrankten sowie ihre erste Zeit als Witwe aus ihrer subjektiven Sicht, und das sehr offen, oft auch bitter-ironisch, wenn nicht sogar verbittert.
Das Leben und langsame Sterben mit einer unheilbaren, ständig fortschrei-tenden und sich der Kontrolle entziehenden Krankheit wie in diesem Fall Alzheimer ist sowohl für den Erkrankten als auch für dessen Angehörige ein Fulltime-Job. Er stellt das gesamte vorige Leben auf den Kopf und erfordert ein Höchstmaß an Organisation, Flexibilität, psychische und physische Kraft. Die Autorin spricht von einer Ehe zu dritt, in der der 3. unberechenbare „Partner“ immer mehr Raum beansprucht.
Vieles in diesem Buch Gesagte kann man als Angehöriger, der selbst einen unheilbar Kranken pflegt oder bis zu seinem Tod gepflegt hat, sehr gut nach-vollziehen. Das hilft etlichen Betroffenen sicher, mit dieser extrem belastenden Lebensphase umzugehen: Es kann ein Trost sein zu wissen, dass man nicht alleine eine derart existenzielle Zeit durchmachen muss, und man bekommt vielleicht die ein oder andere nützliche Anregung.
Allerdings muss man auch bedenken, dass gerade die Art der Bewältigung von Krankheit und Trauer sehr individuell und von vielen inneren und äußeren Faktoren abhängig ist. Und genauso individuell ist das Maß, in dem der Leser für seine aktuell eventuell ähnliche Situation oder zukunftsorientiert etwas aus dem Buch herausziehen kann.
Offensichtlich sieht Katrin Seyfert das ähnlich, denn in einem Focus-Interview mit Elisabeth Hussendörfer hat sie am 18.04.2024 gesagt: „Das Letzte, was ich will, ist jedenfalls rüberkommen wie eine, die glaubt, vieles besonders gut gemacht zu haben. Ich wollte und will keine Tipps geben. Ich versuche mir gerade vorzustellen, ich hätte damals so ein Buch in die Finger bekommen. Doch, ich glaube schon, das ein oder andere wäre wohltuend gewesen: Guck mal, da scheitern andere auch gerade, da erfreuen sie sich an einer absurden Situation, da finden sie eine originelle Lösung… Und wenn es am Ende nur Kleinigkeiten sind, in denen man sich wiedererkennt…“
Durch viele intellektuelle Exkurse zu Philosophen, Philologen, Wissenschaft-lern ist der Schreibstil anspruchsvoll. Auch aus diesem Grund ist es kein Buch, das man mal eben herunterlesen kann.
Fazit:
Es ist insgesamt ein sehr persönliches und in jede Richtung emotional bewegendes Werk:
Mal bedauerte ich Katrin Seyfert und die gesamte Familie, war voller Empa-thie oder zumindest Verständnis. Dann wieder bauten sich Aggressionen auf, wenn ich – natürlich! Siehe oben! - ihre Einstellung, ihr Denken und Handeln überhaupt nicht nachvollziehen konnte, mir vorstellte, dass ich in vergleich-barer Lage (ganz) anders handeln würde. Aber: Wer weiß, wie es ist, wenn man wirklich in der Situation steckt!? Vieles stellt sich dann erfahrungsgemäß ganz anders dar.
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